«Den Urner Dialekt könnte ich immer identifizieren»
Simon Chen ist Slam-Poet und Spoken-Word-Künstler. Der Städter sagt, wieso ihn die Urner Berge faszinieren.
Helen Busslinger-Simmen
Simon Chen, welchen Bezug haben Sie eigentlich zu den Bergen?
Simon Chen: Berge strahlen für mich eine Ruhe aus, die mir guttut. Vielleicht liegt es daran, dass sich angesichts der Allgewalt der Berge die eigene
Wichtigkeit relativiert und einer bescheidenen Zufriedenheit Platz macht. Die absolute Stille in der Abgeschiedenheit der Natur, der sternenklare Himmel,
so was gibts in der Stadt nicht.
Waren Sie auch schon in den Urner Bergen unterwegs?
Chen: Ja, im Sommer 2005 und 2006 habe ich mich zum Schreiben für jeweils vierzehn Tage ins Frimseli, in eine einfache Hütte oberhalb des
Oberaxens, zurückgezogen. Dort oben habe ich die Natur von zwei ganz unterschiedlichen Seiten kennen gelernt.
Von welchen beiden Seiten?
Chen: Ich zitiere gerne aus einem Tagebucheintrag vom 19. August 2005: «Ich steige in knapp Eindreiviertelstunden fast 1000 Höhenmeter auf den 2078
Meter hohen Rophaien, treffe keinen einzigen Wanderer an und geniesse ganz allein die prächtige Aussicht unter dem monströsen Gipfelkreuz, das von
überall her weiss wirkt, aber blechsilbern ist. Ich trage mich ins Gipfelbuch ein.» Das kann man übrigens nachprüfen! (lacht)
Das ist eine Seite. Und die andere?
Chen: Die Abgeschiedenheit in der Wildheuer-Gegend oberhalb von Flüelen animierte mich zum Denken und Schreiben. Ein weiterer Text in meinem
Tagebuch lautet: «Seit zweieinhalb Tagen bin ich abgeschnitten von der Umwelt. Ich, meine Stube, das Fenster und dahinter gar nichts. Nur eine weissgraue
Masse. Dahinter liesse sich eine prächtige Aussicht auf den See, auf die Berge vermuten - oder gar nichts. Nur das Toben des Unwetters, das Prasseln an
den Scheiben, der Wind im Gebälk und die Glocken der Kälber nebenan, die dem Regen trotzen.» Ich bekam nur über Radio DRS mit, dass unten
alles überschwemmt war! Ein Damenbesuch mitsamt Einkäufen kam nicht bis zu mir durch. «Die Natur hat unserer Natur, die wir hier wohl ausgelebt
hätten, einen Strich durch die Rechnung gemacht.» Bei meinem zweiten Aufenthalt 2006 wurde ich dann eingeschneit. Vom Schreiben her waren es zwei
sehr produktive Aufenthalte.
Wie konnten Sie eigentlich Spoken Word zu Ihrem Beruf machen?
Chen: Das wundert mich heute noch! Ich habe vor gut sieben Jahren mit Poetry Slams, das sind Dichterwettkämpfe, angefangen. Damals war das noch
ein Hobby - neben meinem gelernten Beruf als Theaterschauspieler. Mehr und mehr bekam ich Anfragen für lukrativere Auftritte, und so konnte ich
Slam Poetry allmählich zu meinem Haupterwerb machen. Heute trete ich bei allen möglichen Anlässen auf, mache Moderationen, arbeite fürs Radio
und war auch schon bei «Giacobbo/Müller».
Was bedeutet Ihnen Slam Poetry?
Chen: Sprache ist meine erste Leidenschaft. Und meine Texte live dem Publikum um die Ohren zu schmettern (to slam) ist die zweite. Ich liebe das Spiel
mit Wörtern, mit dem Sinn- und Doppelsinn der Sprache. Und der Schauspieler in mir braucht die Performance, den Kontakt mit dem meist sehr
dankbaren Publikum. Zudem schätze ich meine berufliche Unabhängigkeit sehr. Ein Traumberuf! Ich wüsste nicht, was ich sonst machen würde.
Und Spoken Word in Altdorf?
Chen: Zu meiner grossen Freude wurde ich von den Verantwortlichen der Urner Kantonsbibliothek zur Vernissage des neuen Urner Mundartwörterbuchs
von Felix Aschwanden im Jahr 2013 eingeladen - mein erster Auftritt als Spoken-Word-Künstler im Kanton Uri! Den Urner Dialekt könnte ich
übrigens immer identifizieren - er ist sehr charakteristisch. Ich freue mich, ihn dann besser kennen zu lernen.