«Die älteren Leute haben meist noch einiges zu tun»
«In Bergdörfern bleiben vor allem alte Leute», sagt Albert Wettstein*. Der Fachmann sagt, wieso ein aktiver Lebensstil wichtig ist.
PD Dr. med. Albert Wettstein befasst sich intensiv mit dem Wunsch vieler, das Alter «daheim» verbringen zu können. Er
zeigt im Interview auch verschiedene Möglichkeiten in Uri auf.
Helen Busslinger-Simmen
Albert Wettstein, wie beurteilen Sie die Situation der älteren Leute in Urner Bergdörfern, die von Abwanderung betroffen sind?
Albert Wettstein: Abwanderung betrifft vor allem junge Erwachsene, die Älteren bleiben vermehrt zurück. Nur wenige von ihnen ziehen in die
Nähe ihrer Kinder, wenn sie langsam gebrechlich werden. Vor allem dann nicht, solange sie zu zweit leben. In Bergdörfern bleiben
deshalb neben wenigen Bergbauernfamilien vor allem ältere Leute.
Hat Altwerden im heimatlichen Dorf Vorteile?
Wettstein: Mit Sicherheit. Die älteren Leute haben meist noch einiges zu tun, so etwa Arbeiten im Garten, Holzhacken, Haustiere betreuen und
gelegentlich bei Nachbarn beim Bauern helfen.
Ist es vorteilhaft, dass diese Leute in der ihnen seit Jahrzehnten vertrauten Umgebung im gewohnten Stil weiterleben können - etwa
auch mit Blick auf Demenzerkrankungen?.
Wettstein: Diese Vorteile sind nur dann nachhaltig, wenn Betagte regelmässige Unterstützung bekommen, und zwar in jenen Bereichen,
die sie wegen Gebrechlichkeit oder Hirnleistungsschwäche nicht mehr selber bewältigen können. Ich denke etwa an Haushaltarbeit,
administrative Arbeiten, Einkaufen, Kochen, Aufräumen, Reinigen, Waschen sowie Körperpflege und Medikamenten-Management.
Wie gut ist der Kanton Uri diesbezüglich organisiert?
Wettstein: Die Unterstützung von Betagten ist mit der gut organisierten Urner Spitex und mit der Pro Senectute gewährleistet. Je besser diese
Unterstützungsdienste funktionieren, desto länger und mit besserer Lebensqualität können hilfsbedürftige Betagte in den Urner Bergdörfern leben.
Erst bei ausgeprägter Pflegebedürftigkeit kommt ein Heimeintritt in Frage. Oft genügt in Uri bereits die Nachbarschaftshilfe, oder Kinder und
Enkel fragen nach, was Grosseltern brauchen. Mit E-Shopping können sie das Nötige bestellen und per Post ins Bergdorf liefern lassen.
Wenn diese Hilfeleistung nicht möglich ist, muss die Spitex die Versorgung mit Hygieneartikeln, Medikamenten und Lebensmitteln übernehmen.
Auch in Uri machen nicht mehr alle Hausärzte Hausbesuche. Welche Alternativen sehen Sie?
Wettstein: Die Gesundheit ist auch im Alter nur zu 10 bis 15 Prozent von der medizinischen Versorgung abhängig. Vier- bis fünfmal wichtiger ist
ein aktiver Lebensstil, wie er in Bergdörfern üblich ist. Erfahrene Pflegefachpersonen der Spitex, können - gegebenenfalls im telefonischen Kontakt
mit dem Hausarzt - den Zustand von erkrankten oder verunfallten alten Menschen meistens sehr gut beurteilen und das Nötige veranlassen.
Wie verstehen Sie im weitesten Sinn die ambulante Betreuung?
Wettstein: Ambulante Dienste wie Hausarzt, Coiffeuse, Pedicure oder spezialärztliche Versorgung bekommen im Alter eine grössere Bedeutung.
So genannte «aufsuchende Dienste» wie Spitex, Mahlzeitendienst oder Hauspedicure sind entscheidend dafür, ob alte Menschen in Bergdörfern ihre
Lebensqualität behalten und in ihrer engeren Heimat bleiben können. Spitexdienste sind zwingend nötig, sie müssen aber auch flexibel und zum
Teil mehrfach täglich im Einsatz sein.
Welche Ideen bewegen Sie zurzeit?
Wettstein: Gefragt sind Alternativen zu den traditionellen Spitexdiensten. Ich denke da erstens an Zivildienstleistende, die im Rahmen einer
Spitexorganisation und unter Anleitung von erfahrenen Fachpersonen im Einsatz sind. Sie übernachten etwa fünfmal pro Woche in einem der
abgelegenen Höfe und helfen, wo es nötig ist. Eine zweite Alternative sind ausländische Haushalt- und Betreuungshelfer, wie sie seit kurzem
von der Caritas vermittelt werden. Wenn die Bezahlung fair ist und die Arbeitsbedingungen den gesetzlichen Vorgaben entsprechen, kann der
Einsatz von so genannten «Home Care Worker» sehr hilfreich und oft sogar ein Gewinn für beide Seiten sein. Wichtig ist, dass es dabei
keinesfalls nötig ist, dass diese Home Care Worker rund um die Uhr auf Pikett und erreichbar sein müssen. Sie sollen durchaus auch
Freitage und Feierabende haben und das Dorf vorübergehend verlassen können. Auch dann, wenn sie ihr Zimmer im Haus einer
hochbetagten Bergdorfbewohnerin haben.
* PD Dr. med. Albert Wettstein ist Co-Leiter des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich. Von 1983 bis 2011 war er Leiter
des stadtärztlichen Dienstes Zürich.
«Oft genügt in Uri