Der Bündner Arno Camenisch beschreibt in seinen Büchern, wie das Leben zunehmend aus Bergdörfern verschwindet.
Helen Busslinger-Simmen
Sie kennen die Bündner Dörfer und schreiben darüber. Kennen Sie auch den Kanton Uri?
Arno Camenisch: Ja, als 18-Jähriger hing ich an einem Seil in den Felswänden zwischen Göschenen und Andermatt. «Gopfertelli», war das hoch! Ein
guter Freund hatte mich überredet, dass ich mitkommen solle zum Klettern. Nun hing ich dort oben, ganz blass vor Angst. Seither weiss ich: Die Höhe und ich,
das geht nicht. Das ist meine eindrücklichste Erinnerung an Uri.
Ihre Büchern handeln von dörflichen Traditionen, wie wir sie in Uri haben. Geht altes Brauchtum verloren?
Camenisch: In allen Büchern beschreibe ich eine verschwindende Welt. Das Verschwinden, der Verlust, ist ein Leitmotiv, das sich durch mein Schreiben
zieht. Obwohl meine Bücher in Graubünden spielen, könnten sie auch in Uri spielen. Die Themen, die uns beschäftigen, sind die gleichen. Es gibt in Uri
wohl Dörfer, die verschwinden werden. Mit ihnen gehen auch viel Leben und lokales Wissen aus den Tälern sowie eine Vielzahl an Geschichten verloren.
Welche Bedeutung hat für Ausgewanderte die Herkunft?
Camenisch: Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, wo man herkommt. Zeitgenössisches ist nur möglich im Kontext zu Bestehendem. Erst dadurch können
Kontraste geschaffen werden. Somit schöpfe ich beim Schreiben aus meiner Herkunft, sie ist wie ein grosser Theaterfundus: Alles ist da, man muss es nur sehen.
In Ihren Werken mischen Sie Dialektwörter mit dem Schriftdeutschen. Wie wichtig sind Schweizer Dialekte?
Camenisch: Für die meisten Schweizer ist die Mundart ihre Muttersprache, die Sprache des Herzens. Mundart ist dort, wo wir zu Hause sind. Das ist die Basis.
Ich kenne den Urner Dialekt nicht wirklich gut, ich werde aber ganz hellhörig, wenn jemand «ürneret», ich höre es unheimlich gerne. Es hat diesen ganz
eigenen, wunderbaren Sound.
Nicht selten kippen Ihre Texte vom Heimeligen ins Unheimliche.
Camenisch: Das Ambivalente beim Leben in den Bergen ist für mich wichtig - vielleicht deshalb, weil ich mich selbst ambivalent fühle. Wer mit wachen
Sinnen in einem Bergdorf aufgewachsen ist und das Leben dort aufgesogen hat, weiss, dass hinter den Fassaden der Menschen und Dörfer mehr ist,
als man vermutet.
Ihre Themen - etwa die Landflucht der Jungen - haben einen globalen Charakter.
Camenisch: Zu meiner Überraschung wurde ich in vielen europäischen Ländern zu Lesungen eingeladen, etwa auch in Schottland und Slowenien.
Texte von mir erschienen in einer amerikanischen Zeitschrift. Man sagt mir, ich würde den Nerv der Zeit treffen.
Würden Sie für eine Lesung auch in den Kanton Uri kommen?
Camenisch: Aber natürlich, da würde ich sofort zusagen! In Uri bin ich noch nie aufgetreten. Ich glaube sogar, dass Uri der einzige Kanton ist, in dem ich
noch nicht gelesen habe. Vielleicht ist es ja bald so weit.