Er ist immer da gestanden, als ich in die Schule marschiert bin, unverrückbar, er war so vertraut wie der Dorfbrunnen. Wir Kinder würdigten
ihn dann eines Blickes, wenn es geschneit hatte und wir eine Schneekappe auf Tells Kopf vermuteten. Am besten gefallen an der
Kissling-Statue hat mir der Schwung, der sich beim Voranschreiten der Figuren zeigt. Diese eigenartige Bewegung in den kurzen
Röcken vom Tell und seinem Sohn hatte für mich etwas Kribbelig-Erotisches, das ich nicht einordnen konnte.
Beim täglichen Vorbeigehen am Telldenkmal hat sich mir der Tell so eingeprägt, dass ich seine Attitüde jederzeit vor Augen habe.
Durch die Tellspiele bin ich später in eine nährere Beziehung zu ihm getreten. Wir Kinder haben jede Aufführung besucht, und weil uns die
Dramatik rings um die aufwühlenden Ereignisse solchen Eindruck machten, haben wir alles nachgespielt. Ohne Kulissen, ohne Requisiten -
unsere Fantasie musste genügen. Je nachdem spielten wir Gessler, Tell, Stauffacher, Rudenz auf dem Pferd, Tells Söhne oder das gemeine
Volk.
So haben sich die Tellspiele - nach den grossen Spielen im Tellspielhaus - damals verkürzt in Altdorfs Höfen und Ecken abgespielt.
Bloss wusste das keiner. Am meisten fasziniert hat mich - heute gebe ich es zu - das Gewitter zu Beginn des Dramas. Ungeduldig haben
wir jeweils auf die aufziehenden Wolken, das Donnergrollen und Zucken der Blitze gewartet und haben die naturgetreu nachgemachte
Kulisse in uns aufgesogen. Heute noch erinnert mich jedes Gewitter, wo es auch immer stattfindet, an Tells Drama.
Schliesslich haben wir den Tell in der Schule durchgenommen. Dabei ist mir aufgefallen, dass durch nichts anderes als durch das
Zusammenstehen dreier Männer eine Bewegung entstanden ist - eine Befreiungsbewegung. Es brauchte bloss die drei Menschen,
die Gleichgesinnte suchten, die Unterdrückung bekämpften und alles auf den Kopf stellten, um den Schwächeren ihr Recht zurückzugeben.
Das ging mir durch Leib und Seele. Seither habe ich Aehnliches selber erlebt, in kleinen Bereichen.
Damals haben wir Schillers Tell auswendig gelernt und im Schulzimmer aufgeführt; dazu war gerade eine Probe notwendig.
Das Problem, das uns in Aufregung versetzte, war die Zuteilung der Rollen, die in einem demokratischen Prozess stattfand.
Leider gibt es bei Schillers Tell wenig Hauptrollen für Mädchen, doch zu meiner Freude durfte ich Tells Frau spielen, und damit bin
ich dem Tell nochmals näher gekommen.
Tell gehört zu meiner Jugend, deshalb besuche ich jede neue Inszenierung. Jedesmal weine ich beim Bau von Zwing Uri still vor mich hin,
so wie beim Dreimännerbund, beim Tod Attinghausens und bei der Schlussszene, und die ganze Zeit jagen kalte Schauer über meinen
Rücken. Zweifelsohne bin ich emotional an dieses Schauspiel gebunden.
Dass die Tellspiele dieses Jahr ganz anders inszeniert werden, hat seinen guten Grund. Wir sollen mit neuen Augen sehen und hören,
immer wieder. Wenn die Szenen durcheinander geraten, wenn Urner Dialekt gesprochen wird und Rap ertönt, will uns die Inszenierung
damit die Augen öffnen. Das Wichtigste ist der Inhalt, der Kern der Sache, diese einmalige, hochdramatische Geschichte mit einem Anfang
und einem Ende, mit Gefahr, Kampf und Sieg, Tod und Leben. Der Tell der Urnerinnen und Urner.