Vor allen Häusern im Dorfkern leuchteten früher an Fronleichnam bunte Blumensträusse und Sträucher, junge Bäume, Forsythien, einfach alles
Grüne, das aufzutreiben war. Für diesen Tag hatte man die Gärten geplündert. Entlang den Häuserreihen wurden Altäre hergerichtet, mit
Heiligenbildern, auf weissen Tüchern standen silbrige Kerzenständer mit brennenden Kerzen, Buchenlaub und Efeuranken vervollständigten die
Pracht. Durch den ungewöhnlichen Schmuck entstand eine eigenartige, barocke Stimmung.
An der Prozession durchs Dorf, an der alle teilnahmen, die mit dem Dorf und seinen Bräuchen verbunden waren, nahmen festgeführte
Gruppierungen teil. Angeführt von Kreuz und Fahnen bewegte sich der Zug langsam durchs Dorf, der Pfarrer in prächtigen Messkleidern und trug
unter einem Baldachin die Monstranz. Für uns Kinder sah er aus wie ein König, vor allem deswegen, weil er über dem Messgewand eine goldene
Stola trug. Ihm folgten Priester und Ministranten, Kinder in weissen Kleidern, Mitglieder der Vereine, Musik und Kirchenchor, Bei einzelnen Altären
wurde Halt gemacht und Texte aus den Evangelien vorgelesen, der Kirchenchor sang das „Tantum ergo“.
Auf dem Lehn muss eine lang andauernde Feierlichkeit stattgefunden haben, aber ich fand nicht heraus, was dort geschah. Denn wir Mädchen
wurden in der Schmiedgasse „abgestellt“ und mussten in langen Reihen warten, bis der Zug sich wieder in Bewegung setzte. Wir flüsterten,
standen von einem Bein aufs andere, es war langweilig und dauerte endlos, die Zeit schien still zu stehen. Wir fragten uns, ob wohl die Buben
und Männer andere Plätze mit besserem Ausblick erhalten hatten.
Fürs Warten belohnt wurden wir durch das Mysterienspiel auf dem Kirchplatz. Die Prozession stellte sich in Gruppen auf, Kirchenchor und
Sängerknaben sangen, die Musik spielte. Die Vereine waren durch Fahnenträger vertreten, man zeigte mit Stolz, zu welchem Stand man gehörte.
Wir Mädchen waren diesmal besser positioniert, leicht erhöht unter den Bäumen, die es damals noch gab, und starrten die Schüler des
Kollegiums gegenüber an.
Die Burschen der Studentenverbindung trugen farbige Bänder und Füllhörner, nicht zu übersehen waren ihre stolzen Mienen, die in unsern
Augen Distanz und Intelligenz ausstrahlten. Überhaupt verstanden es die Studenten, Eindruck zu machen, und wir dachten, das seien wohl die
künftigen Politiker, Ärzte, Lehrer, Juristen und vielleicht Bundesräte. Womit wir nicht ganz Unrecht hatten.
Das Mysterienspiel endete mit einem Höhepunkt, wenn der Pfarrer den Segen erteilte, gleichzeitig die Ministranten mit den Glocken so laut
klingelten, wie es möglich war, und alle ringsum gleichzeitig schweigend in die Knie sanken. Nur langsam löste man sich vom ergriffenen
Staunen, verliess die Gruppe, zu der man gehörte und setzte sich in Bewegung. Die folgenden Gespräche waren an Banalität nicht zu überbieten.
Auf die Feierlichkeiten folgten Klatsch und Tratsch, ein vielleicht notwendiger Kontrapunkt. Der Alltag hatte uns wieder im Griff, bis zum
nächsten Fronleichnamsfest, wenn die Frauen wieder Gärten plünderten, die Studenten die Mützen hervorholten, der Siegrist die Monstranz
polierte und die Chöre die Gesänge einübten.