In den vierziger und fünfziger Jahren hatte es in Altdorf überall Kinder, auf den Strassen und Plätzen, in den Hinterhöfen und Gärten, es war die Zeit der grossen Familien - das Dorf war ein Kinderdorf. Überall, wo es interessant zu werden versprach, richteten wir Kinder uns damals ein, solche Plätze gab es zuhauf: Vorgärten, Gassen, Scheunen, Stiegen und Ecken. So wurde das Dorf von uns nach Gutdünken besetzt und als Spielplatz gebraucht, trotz der Kantonsstrasse, die das Dorf in zwei Teile trennte. Bandenweise tat man sich zusammen, und wenn man weggeschickt wurde, installierte man sich sofort an einem andern Ort.
Es gab verschiedene Kinderbanden, je nach Quartier, sie hatten ihren eigenen Charakter. Die Flüelersträssler galten als wild und unberechenbar, die Dätwylersträssler schienen uns vornehm, die Bahnhofsträssler hatten Fantasie. Mein Platz war im Hof hinter dem Gemeindehaus, da trafen sich oft bis zu zwanzig Kinder. Alles war da, was Kinder erfreut, Kiesplatz, Brunnen, Bänke, ein alter Schuppen und eine Linde. Der grosse Kiesplatz war damals, als das Gemeindehaus als Schulhaus diente, als Pausenplatz eingerichtet worden – eine Oase mitten im Dorf, die wir in Besitz nahmen.
Hinter dem Kiesplatz lag ein Gemüsegarten, der von den Klosterfrauen, die zuoberst im Gemeindehaus wohnten, bepflanzt wurde. Wir wussten nicht, ob das Betreten des Gartens verboten war, deshalb fragten wir lieber nicht und gaben acht, nichts zu zertreten - dieses Paradies wollten wir nicht hergeben. Unersetzlich war der Schuppen am Gartenrand, ein stockdunkler Raum, den wir dringend brauchten.
Oft machten wir einen solchen Lärm, dass die Angestellten im Gemeindehaus es nicht mehr aushielten und die Fenster schliessen mussten, was mich in Staunen versetzte. Wie konnten sie unser Singen, Rufen, Schreien, Lachen und das lustige Treiben nicht geniessen? Das verstand ich nicht. Damals waren die Erwachsenen für mich fremde Gestalten. Ich erinnere mich an einen alten Mann, der immer, wenn er uns sah, sich selbst Hörner aufsetzte und rief: „Dr Tiifel chunnt!“ Wir rannten davon, er begleitete unsere Flucht mit höhnischem Gelächter.
Das Dorf der Kinder war keine heile Welt. Vieles machte uns Angst, schien verworren oder bedrohlich oder voller Rätsel, wir blickten nicht durch. Deshalb organisierten wir uns in der Kindergruppe, spielend verarbeiteten wir das, was wir nicht verstanden. Wir waren nicht ohne Furcht, damals, aber wir wollten dabei sein, mitmachen, den eigenen Platz suchen und vielleicht finden. Dafür war das Dorf ein geeigneter Ort.
Im Hof spielten wir Gemeindehäusler nach, was wir den Erwachsenen abgeguckt hatte. Eines der Spiele, hiess „Engel und Teufel“, - wir hatten es selber erfunden. Die einen waren Engel, die andern Teufel, wir rannten einander nach, wenn ein Engel einen Teufel fangen konnte, wurde er sofort zum Engel. Und umgekehrt. Wir ahnten ja nicht, dass eine tiefere Wahrheit hinter dem Spiel steckt: Engel und Teufel lassen sich nicht immer voneinander unterscheiden. Aber das erfuhren wir später. Die Leichtigkeit, in der wir damals Teufel in Engel verwandelten, ist uns abhanden gekommen.
Wir verliessen die eigene Gruppe kaum. beim Spielen blieben wir - ein ungeschriebenes Gesetz - im Quartier, in welchem wir jeden Stein kannten. Wir brauchten die Nähe zum Wohnhaus, da wir immer wieder heim rennen mussten, um einen Ball und dieses oder jenes Utensil zu holen. Man brauchte flinke Beine, mit roten Köpfen rannten wir über die Strasse, um nichts zu verpassen.
Heute ist aus Hof und Garten hinter dem Gemeindehaus ein Parkplatz geworden, wie an vielen Orten, - eine Errungenschaft unserer Zeit. Wenn ich auf dem Parkplatz stehe, werde ich nicht von Wehmut oder Nostalgie ergriffen. Denn ich habe das Paradies in meinem Kopf: Eine traumhafte Freiheit und Beweglichkeit in jener Zeit, als wir Kinder uns das nahmen, was wir brauchten. Wahrscheinlich trägt die Gemeindehäusler-Bande diese Bilder mit sich herum und hat das Lachen und Rufen immer noch im Ohr. Das bleibt bestehen. Das kann niemand wegnehmen.