Altdorfer Dorfgeschichten

Folgende Porträts sind im
Urner Wochenblatt erschienen:

Himmel und Hölle

Helen Busslinger-Simmen
In Altdorf schienen in meiner Kindheit Himmel und Hölle nahe beieinander zu sein. Rasch fühlte wir uns Kinder „wie im siebenten Himmel“, aber auch die Hölle lag in Greifnähe. „Der Tiifel het dich gstupft“, sagte man uns bei kleinsten Verfehlungen. Vorstellungen von Himmel und Hölle geisterten durch Bibel und Lesebücher, im Umkreis der Pfarrkirche schien das Dämonische wie das Göttliche besonders greifbar zu sein.

Eines Tages wagten wir Gemeindehäusler uns zur Kirchenstiege vor, trieben uns auf dem Friedhof herum, schauten die Fotos auf den Grabsteinen an und spritzten reichlich Weihwasser. Schliesslich betraten wir die Kirche, die uns ohne Gläubige riesengross erschien. Was wir da anstellen wollten, wussten wir noch nicht. Plötzlich hörten wir einen Knall, und wie der Blitz rannten wir hinaus und die Kirchenstiege hinunter.

Unten an der Kirchenstiege versammelten wir uns und flüsterten, der liebe Gott im Himmel hätte uns vertrieben. Wir lebten ganz und gar im katholischen Milieu. Religiöse Traditionen wurden nicht bloss an einem Ort gepflegt, sondern überall, in Kirche, Schule, Elternhaus und in den Jugendvereinen. Himmel und Hölle waren im Gespräch, und oft standen beide Welten so nahe beieinander, dass sie fast ineinander verflossen.

Man war überzeugt, dass die Guten in den Himmel kommen und die Bösen in die Hölle. Für den Himmel mussten wir Kinder uns anstrengen, etwas tun, helfen, gehorchen, uns zusammenreissen, nicht streiten. Den Schulschwestern mit ihrer unnachahmlichen Fantasie ist dazu einiges eingefallen. Einmal bekamen wir alle einen Mini-Rosenkranz mit Perlen, den wir uns um den Hals hängen konnten. Bei jeder guten Tat durften wir eine Perle verschieben, und wir Mädchen schoben die Perlen bei jedem akzeptablen Gedanken weiter und erkletterten damit nach unserer Ansicht die Himmelsstiege.

Das Höllenfeuer wurde als Drohung gebraucht – eine ambivalente Sache. Nicht alle Kinder haben dies verkraftet. Fragwürdig war die Beteuerung, unsere Kindersünden seien schuld am Tod von Jesus am Kreuz. Das habe ich nicht geglaubt. Aber mir machte die Vorstellung Sorge, die Sterne würden vom Himmel fallen würden, wie ich bei den Schilderungen des „letzten Gerichts“ gehört hatte.

So schaute ich nachts jeweils besorgt zum Himmel hinauf und hoffte, die Sterne würden nicht herunterfallen, oder wenigstens nicht gerade jetzt. Dem bin ich später nachgegangen und fand heraus, dass offensichtlich Texte der Apokalypse in der Bibel falsch verstanden worden waren: Der dramatisch geschilderte Weltuntergang war ein Sinnbild für etwas ganz anders.

Die allgegenwärtigen Traditionen hatten selbstverständlich gute Seiten, denn das Brauchtum war auf Erlebnisse ausgerichtet, es war sinnlich und sprach unsere Gefühle an. Da waren starke Bilder, mit denen wir etwas anfangen konnten. Felsenfest glaubten wir zum Beispiel daran, dass im Dezember Nikolaus direkt vom Himmel zu uns herunterkam. Wenn ich jeweils vom Gemeindehausplatz aus den ersten Lichtschein sah, war ich ergriffen. Man muss sich das vorstellen: Besuch vom Himmel, direkt in der eigenen Stube. Wenn das nicht Herzklopfen verursachte!

Soviel Kontakt mit dem Himmel war manchen des Guten zuviel. Kein Wunder, dass es Kinder gab, die am Nikolausabend regelmässig krank wurden, die Mystik sagte nicht allen zu. Ein rührender Brauch, der irgendwo zwischen Himmel und Hölle angesiedelt war, bildete die Karfreitagsprozession mit der weinenden Madonna, die durchs Dorf getragen wurde. In meinem kindlichen Verständnis beweinte die Madonna einmal im Jahr das Traurige und der Schrecken, alles Schlimme, was in der Welt geschieht. In meinen Augen waren es erlösende Tränen, die alles Unheil wegzuwischen vermochten.