Uri von aussen gesehen

Folgende Porträts sind in der
Neuen Urner Zeitung erschienen:

Emil Zopfi

Wo es Schriftsteller Emil Zopfi so richtig schaudert

Für den Autor Emil Zopfi ist Uri seine «Abenteuer-Heimat». Er vergleicht die alte Route zum Salbtschijen mit der neuen Brücke.

Helen Busslinger-Simmen
«Ich habe gelitten, wenn ich nicht klettern konnte», sagt der passionierte Sportkletterer Emil Zopfi. So kam er zum Schreiben. «Wenn ich im Winter die Erlebnisse des Sommer aufschrieb, konnte ich sie nochmals durchleben. Das Schreiben milderte mein Leiden. Und so wurde ich schliesslich zum Berufsautor.»

Einst nur für wilde Kletterer

Kürzlich ging Zopfi über die neue Salbitbrücke. Sie verbindet die beiden SAC-Hütten Salbit und Voralp. Berggänger können die Tour zur Salbithütte und bis nach Göschenen oder Wassen fortsetzen. Das Projekt erhöht die Attraktivität des Göschenertals. Nachfolgend hält Zopfi sein Erlebnis fest:

«Der neue Weg von der Salbit- zur Voralphütte führt gut gesichert durch Gebiete, die einst nur wilde Kletterer interessierten. Publikumsmagnet ist die 90 Meter lange Salbitbrücke – ein Wandererlebnis der besonderen Art. Zaghaft schreite ich über die Hängebrücke, die unter meinen Schritten sanft zu schwingen beginnt. 120 Meter unter mir die Schlucht, schwarz im Schatten noch, die sich vom Salbit-Südgrat ins Voralptal hinabzieht. Ich halte mich an den dicken Stahlkabeln fest, die bestimmt nicht reissen, denke ich. Thornton Wilders Erzählung ‹Die Brücke von San Luis Rey› fällt mir ein, die schönste Brücke Perus, die am 20. Juli 1714 riss und fünf Menschen in den Tod riss. Ich versuche, meine Schritte so zu dosieren, dass die Konstruktion nicht in Resonanzschwingungen gerät. Sicher ist sicher. Am andern Ende erschrecke ich: Ein Rudel Gämsen springt auf und flieht über Felsstufen und Blockfelder. Drüben in den Felsen höre ich Stimmen, eine Seilschaft klettert an der Grenze zwischen Licht und Schatten.»

Ohne Wasser die Wand hinauf

«In der ersten Geschichte, die ich in der Zeitschrift ‹Die Alpen› veröffentlichte, schrieb ich: Es war ein klarer Morgen am 24. September 1961, als ich mit meinem Freund die Südostwand des Turms 2 kletterte, einen steilen Granitpfeiler, eine der schwersten Routen damals im Gebiet. In der Salbithütte hatte ich von den langen glatten Rissen erzählt, die wir damals mit Holzkeilen in technischer Kletterei überwanden. Wir schlugen die Holzkeile der Erstbegeher heraus, weil wir selber viel zu wenige dabei hatten, verwendeten sie weiter oben wieder. Ein ganz dicker brach aus, mein Freund stürzte weit, doch auch unser Seil riss nicht. Nach sechseinhalb Stunden standen wir auf dem Gipfel, mit zerschundenen Händen und vollständig dehydriert. Wir hatten unter einem Biwakstein übernachtet ohne einen Tropfen Wasser, und ohne Wasser kletterten wir den ganzen heissen Tag, schliesslich wurden es zwanzig harte wasserlose Stunden. Und ich denke daran, wie uns in dieser Schlucht einst eine gewaltige Schnee- und Felslawine beinahe getötet hatte. Es war nämlich im Frühsommer, nach der Kletterei in den Türmen rutschten wir auf festem Schnee das Couloir hinab. Etwa eine Viertelstunde nachdem wir es verlassen hatten, ging die Lawine nieder.»

Wie im Film

«Während ich jetzt an Drahtseilen auf gutem Weg die steilen Schrofenhänge gegen das Couloir hinabsteige, komme ich mir vor wie in einem Film. Die Erinnerung an damals wird lebendig. Ich sehe zwei Jungen zu, die sich noch in Dunkelheit über diese abschüssigen Hänge emporquälen, mit Rucksäcken voller Klettermaterial, aber ohne Wasserflasche. Mich schaudert. Und mich schaudert unten im Grund der Schlucht, wo eine Tafel empfiehlt, sie schnell und einzeln zu überqueren. Denn ein Blick hinauf zur Rückseite der Türme zeigt, dass in der Höhe Bruchwände drohen, loses Gestein, riesige Blöcke, die jederzeit herniederstürzen können. Auch der Geruch des Granitstaubs dieser Steinschlagzone erinnert mich an damals.

Und nun ist hier ein Weg. Schön markiert und gesichert. Drahtseile, Eisenstifte. Rasch steige ich Stufe um Stufe auf einer langen Leiter die Wand auf der andern Seite der Schlucht hinauf. Wie in einem Film eben, so als schwebte ich über das Abenteuerland meiner Jugend hinweg, leichtfüssig und beinahe gefahrlos. Die Alpenrouten in Uri verändern sich.»