Uri von aussen gesehen

Folgende Porträts sind in der
Neuen Urner Zeitung erschienen:

Evelyn Binsack

«Mein Ziel ist nicht in erster Linie der Gipfel»

Evelyne Binsack bezwang die Eigernordwand und die höchsten Gipfel im Himalaja. Doch begonnen hat alles am Gotthard.

Helen Busslinger-Simmen

Evelyne Binsack, Sie waren Bergführerin am Gotthard. Wie hat Sie das Gebiet geprägt?

Evelyne Binsack: Meine ersten Bergführererfahrungen im Gotthard- und Furkagebiet haben viel dazu beigetragen, dass ich heute da stehe, wo ich bin. Ich habe gespürt, dass Naturerfahrungen die beste Lebensschule ist, die es gibt. Im Urserntal habe ich meine Gäste jahrelang durch die schönsten Tiefschneeabfahrten geführt. Dies zu einer Zeit, als Freeriden noch kein Begriff und Andermatt ein beschauliches, urchiges Dorf war.

Hatten Sie als Bergführerin in Uri ein besonderes Erlebnis?

Binsack: Es gibt ganz unterschiedliche Erinnerungen. Den ersten Bergtoten in meinem Leben habe ich am Tiefenstock geholt. Er war vom Blitz erschlagen worden. Nebst solch traurigen Momenten habe ich auch wunderbare Bergerlebnisse, die mich nicht losliessen und mein Leben bestimmten.

Sie waren als erste Schweizerin auf dem Mount Everest. Was ging Ihnen durch den Kopf?

Binsack: Als ich mit 34 Jahren auf die Idee kam, den Mount Everest zu besteigen, wusste ich nicht, dass vorher noch keine Schweizer Frau auf dem Gipfel war. Einige Schweizer Bergsteigerinnen machten erfolglose Versuche, angefangen mit Yvette Vaucher, einer grandiosen Alpinistin aus vergangener Generation. Ich wusste, dass mein Ziel nicht in erster Linie der Gipfel, sondern das gesunde Zurückkommen war.

Sie sind Helikopterpilotin, Dokumentarfilmerin, bewältigten die «Antarctica» und haben die höchsten Gipfel der Welt bestiegen. Was ist Ihr Antrieb?

Binsack: Mein Antrieb steht immer in engem Zusammenhang mit meiner Neugier. Es gibt auch ganz pragmatische Gründe: Die Notwendigkeit, zum Beispiel, Geld zu verdienen. Ich habe mich wegen des Risikos eines möglichen Scheiterns nie gegen meine Freiheit entschieden, das zu tun, was ich gerne tue: Mich in der Natur verwirklichen.

Sie bezeichnen die Natur als beste Lehrmeisterin. Was lernen wir?

Binsack: Was wir lernen, ist sehr individuell. Ich kann nur für mich sprechen: Die Natur lehrt in erster Linie Demut. Man kann übermütig Berge besteigen, aber nicht auf Dauer. Um ein anspruchsvolles Ziel zu erreichen, wie zum Beispiel die Besteigung der Eiger-Nordwand oder den Gipfel des Mount Everest, muss man sich zuerst viel aneignen. Um einen Berg zu bezwingen, der wirklich «heavy» ist, muss man viel Fachwissen und Können, die nötige Kraft, den nötigen Willen aufbauen. Man muss demütig genug sein, ein Schneebiwak auszuhalten oder sich vor der Gewalt eines Gewitters in Sicherheit zu bringen oder eine Tour erfolglos abzubrechen.

Schwimmen Sie mit Ihren hohen Ansprüchen nicht gegen den Strom? Viele Junge wünschen immerwährenden Fun.

Binsack: Immerwährender Fun ist eine Illusion, eine Lüge. Charakterschulung bedeutet, nicht beim ersten Gegenwind aus dem Gleichgewicht zu fallen. Wer die ganze Zeit nur Fun hat, dem entgeht, glaube ich, eine zentrale Angelegenheit im Leben. Und wie jeder Mensch, fühle ich mich toll, wenn mir eine Sache gelingt, und weniger toll, wenn mir eine Sache misslingt. Das Gelingen und Misslingen sind sich sehr verwandt und kommen als Möglichkeit immer im Doppelpack mit.