Uri von aussen gesehen

Folgende Porträts sind in der
Neuen Urner Zeitung erschienen:

Werner Röllin

«Zeit der legalen Anarchie»

Der Schwyzer Volkskundler Werner Röllin befasst sich seit Jahren mit Volksbrauchtum. Er hat die Urner Fasnacht nicht nur studiert, sondern auch miterlebt.

Helen Busslinger-Simmen

Werner Röllin, das Herzstück der Urner Fasnacht ist die Katzenmusik. Worin besteht deren Faszination?

Röllin: Ich habe die «Ytrummletä» in Altdorf mehrmals besucht. Die Katzenmusik geht einem wirklich durch Mark und Bein. Der Sound ist historisch belegt durch die Bourbaki-Soldaten. Deren morgendlicher Weckruf durch Clairons wurde in Altdorf nach 1871 fasnächtlich interpretiert, imitiert und in einer gewissen Art kritisch verspottet, ohne dass man die Melodie dabei verhunzt. Durch die jährliche Wiederholung und Anhörung wird die Katzenmusik zum unverwechselbaren Ortsklang. Diese besondere Musik kann auch bei Nichtfasnächtlern Heimatgefühle wecken. Mir gefällt besonders der spontane Umzug der Maskierten, deren Kostümierte eine grosse Vielfalt lustiger und ideenreicher Innovationen zeigen. Hierin ist Altdorf einzigartig in der Schweiz.

Jedes Urner Dorf hat eigene Fasnachtsbräuche. Was wird manifestiert?

Röllin: Das ist auf gut Deutsch «Kirchturmpolitik». Jedes Dorf will doch die bessere, schönere und urtümlichere Fasnacht haben. Diese ortsgebundenen Rivalitäten spielen auch in anderen Bereichen eine Rolle. Etwa beim Sport und früher in der Kirche bei Prozessionen. Man will sich durch eigene Kreationen von den anderen Dörfern absetzen. Die Drapolinger von Amsteg sind jeweils auch in Altdorf, aber sie möchten nicht mit dem Urner Kantonshauptort verwechselt werden. Sie stammen eben aus Amsteg und verkörpern nach aussen ihr Dorf. Sie sind sozusagen das Wappenbild und Image ihrer Gemeinde.

Jedes Jahr machen Hunderte Einheimische wie Zugewanderte mit.

Röllin: Viele Teilnehmer sind Heimweh-Urner, die an der Fasnacht ihre Jugendzeit wieder erleben oder rekonstruiert sehen wollen. Man fühlt sich in frühere Zeiten zurückversetzt, als man die Fasnacht als Kind erlebt hat. Diese kindlichen Eindrücke sind wie im Computer auf einer Festplatte eingraviert und wollen repetiert werden. Zudem trifft man Bekannte, die man übers Jahr selten sieht oder mit denen man sich unter dem Jahr selten unterhalten kann. Und der Sound der Katzenmusik verbindet die Leute emotional, sodass viele dazu spontan auf den Strassen mittanzen. So entsteht das Gefühl der Zusammengehörigkeit in einer noch übersichtlichen Welt.

Gewähren dörfliche Fasnachtsrituale Sicherheit in einer schnelllebigen Zeit?

Röllin: Man hebt die dörfliche Identität zur Fasnachtszeit hervor. Mit den dorfspezifischen Fasnachtsritualen will man sich auch abgrenzen: Man demonstriert, dass man es auch zur Narrenzeit besser, grösser und ideenreicher machen kann als die Nachbarn. So wird die Fasnacht zur örtlichen Etikette und Visitenkarte. Die Fasnacht bietet den Dorfgemeinschaften Gelegenheit, sich durch Aktivitäten von den anderen Dorfgemeinschaften abzugrenzen oder dieselben «auf die leichte Schulter» zu nehmen, also zu parodieren.

Verschiedene Dorfgruppen haben ihre eigenen Rituale. Will man unter sich feiern?

Röllin: Die Aufsplitterung ist ein typisches Zeitsymptom, nicht nur zur Fasnachtszeit. Man fühlt sich in der vertrauten Gruppe wohler als in einem grossen Aggregat, ob dies nun im Kreise von Kleinkindern und Eltern, von Volksschulkindern oder Quartiergruppierungen stattfindet. Vielfach sind Meinungsdifferenzen innerhalb einer bestehenden Organisation Anlass zur Abspaltung. Der Virus der Separation ist bei fasnächtlichen Gruppen sehr aktiv. Vor allem auch bei Guggenmusiken, wo immer wieder neue Formationen entstehen. Auch in den Städten und Agglomerationen ist die Selbstdarstellung in Kleingruppen immer gefragter, offenbar aus Scheu, im grossen Aggregat unterzugehen. Der Kanton Uri ist keine heile Welt mehr innerhalb unserer gesellschaftlichen Umwälzung.

Werden in der Fasnachtszeit die Sitten lockerer?

Röllin: Die Fasnacht ist die Zeit der legalen Anarchie. Das bedeutet, dass die Fasnacht ausserhalb der gewohnten Ordnung steht. Man will «verkehrte Welt» spielen. Dazu gehören auch Verhaltensweisen, die von Anzüglichkeiten bis zum freien Sex gehen. Der moralische Vorwurf der leichten Sitte zur Fasnachtszeit ist so alt wie die Fasnacht selbst. Diesen Vorwurf gibt es mindestens seit dem 14. Jahrhundert. Mir scheint eine Art Entsexualisierung des Fasnachtstreibens in Gang gekommen zu sein. Heute ersetzen Lärm, Laserstrahlen und der Hang zum Grössenwahnsinn bei fasnächtlichen Veranstaltungen den erotischen Intimbereich. Das habe ich schon in Barbetrieben Mitte des letzten Jahrzehnts in Altdorf festgestellt. Die Lautstärke ersetzt den fasnächtlichen Witz. Mir scheint heute das Alkoholproblem wichtiger zu sein als die angedeutete Sexualentgleisung.

Sagt man in den Schnitzelbänken und «Narrenblättern» einmal im Jahr deutlich seine Meinung?

Röllin: Das hat Tradition. Der Urner Maler und Schriftsteller Heinrich Danioth hat mit Versen und Zeichnungen an jeder Fasnacht seine kämpferische und progressive Haltung gezeigt. Fasnacht war für ihn als «Unangepasster» ein absolutes Muss. In Bezug auf Schnitzelbänke sind die Basler Fasnächtler unübertrefflich. In Uri hat sich seit längerer Zeit eine eigene Schnitzelbankkultur etabliert, getragen von einigen witzigen Leuten. Für gute Schnitzelbänke braucht es sprachgewandte Autoren, welche die Pointen der Schnitzelbankstrophe richtig setzen, zeitlich und sprachlich.

Eignete sich «Ürnertitsch» besonders gut für Spottverse?

Röllin: Ich habe mir in Altdorf Schnitzelbänke angehört. Der Urner Dialekt mit seinem sympathischen Klang eignet sich wie der Basler Dialekt besonders dafür. Wie auch zu schöner Urner Lyrik, wie sie mein ehemaliger Seminarklassenkollege Ruedi Geisser aus Schattdorf vor über dreissig Jahren schuf.