Hansruedi Stadler hat sich für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eingesetzt. Dafür erhält er
Lob von Nachfolger Luzius Mader, dem stellvertretenden Direktor des Bundesamts für Justiz.
Helen Busslinger-Simmen
Worin bestand die Arbeit, die alt Ständerat Hansruedi Stadler im vergangenen Jahr geleistet hat?
Luzius Mader: Am Gedenkanlass im April 2013 hat Bundesrätin Sommaruga die Einsetzung von Stadler als Delegiertem für
Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bekannt gegeben. Sie erteilte ihm als unparteiischem Vermittler den Auftrag,
einen Prozess einzuleiten, damit alle offenen Fragen zur Problematik der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen rasch und
umfassend angegangen werden.
Was sind Stadlers grösste Verdienste?
Mader: Ihm ist es gelungen, die Betroffenen und ihre Vertreter sowie die involvierten Behörden, Institutionen und
Organisationen sehr rasch an einen Tisch zu bringen. Bereits zwei Monate nach dem Gedenkanlass fand unter seiner
Leitung der erste runde Tisch statt. Stadler hat eine tragfähige Grundlage für eine konstruktive, lösungsorientierte
Zusammenarbeit geschaffen. Ihm ist es auch zu verdanken, dass die Kantone sofort regionale Anlaufstellen für die
Betroffenen eingerichtet haben. Er hat auch die Ausarbeitung von wichtigen Empfehlungen zur Regelung des Zugangs zu
Archiven veranlasst.
Beschreiben Sie die Anstrengungen, die Hansruedi Stadler ausgelöst hat.
Mader: Der runde Tisch hat die Aufgabe, für eine umfassende Aufarbeitung der Problematik zu sorgen. Das erfordert grosse
Anstrengungen. Es hat viel Zeit gebraucht, bis dieses Thema auf die politische Agenda gesetzt worden ist, Stadler hat mit
der Aufarbeitung begonnen. Denn er hat gesehen, dass es höchste Zeit ist, dass das begangene Unrecht anerkannt und die
Wiedergutmachung an die Hand genommen wird. Diese kann nicht in erster Linie finanzieller Art sein. Auch die wissenschaftliche
Aufarbeitung ist nötig. Aber gewisse finanzielle Leistungen sind meines Erachtens unabdingbarer Teil der Massnahmen, die der
Staat zu Gunsten der Opfer treffen muss.
Wer nimmt teil am runden Tisch?
Mader: Mitglieder des runden Tisches sind Betroffene oder Vertreter von Betroffenen sowie Vertreter des Bundes, der Kantone,
der Städte und Gemeinden. Auch andere Institutionen und Organisationen sind dabei. Insgesamt sind dies 22 Personen. Dazu kommen
Experten oder Vertreter des Parlaments. Der runde Tisch hat den Auftrag, bis im Sommer dieses Jahres Vorschläge und Empfehlungen
für die politischen Behörden auszuarbeiten. Dabei müssen alle Kategorien von Betroffenen berücksichtigt werden. Es geht um eine
ganzheitliche Sichtweise.
Wie ist die Situation der Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen?
Mader: Die 1981 getroffenen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen sind ein düsteres Kapitel der schweizerischen Sozial- und
Rechtsgeschichte. In manchen Fällen sind diese Massnahmen in Situationen getroffen worden, die aus heutiger Sicht nicht
zu rechtfertigen sind. Oder sie sind in einer Art erfolgt, die uns heute als problematisch erscheint. Es ist unbestritten,
dass zahlreichen Personen, vor allem Kindern und Jugendlichen, Unrecht geschehen ist. Darunter leiden viele Betroffene noch heute.
Warum muss die Arbeit gemäss Sommaruga beschleunigt werden?
Mader: Viele Opfer sind heute in einem relativ hohen Alter. Und auch jüngere Opfer befinden sich zum Teil in einer schwierigen
finanziellen Lage oder leiden unter gesundheitlichen Problemen. Aus diesem Grund wird der runde Tisch seine Vorschläge voraussichtlich
bereits in diesem Sommer unterbreiten.
Welche Personen befinden sich unter den Opfern?
Mader: Es geht um Heim- und Pflegekinder sowie um Verdingkinder. Es geht um junge Frauen, die zur Abtreibung gezwungen worden
sind oder auf die Druck ausgeübt worden ist, damit sie ihre Kinder zur Adoption freigeben. Es geht um Zwangssterilisierte oder
Zwangskastrierte. Auch geht es um Personen, mit denen Medikamentenversuche durchgeführt worden sind. Und es geht um Fahrende.
Man muss aber sehen, dass nicht alle Personen, die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffen waren,
als Opfer betrachtet werden können. Als Opfer gelten unter anderem Leute, deren physische, psychische, geistige oder sexuelle
Integrität verletzt wurde.
Hinweis
Hansruedi Stadler hat sein Amt als Delegierter des Bundesrates «aus Kapazitätsgründen» abgegeben. Luzius Mader ist sein Nachfolger.