Altdorfer Dorfgeschichten

Folgende Porträts sind im
Urner Wochenblatt erschienen:

Welttheater im Kleinen

Helen Busslinger-Simmen
Lange bevor wir Calderons „Welttheater“ kennen lernten, erlebten wir Kinder in den vierziger und fünfziger Jahren in Altdorf Ansätze davon. Da hat sich nicht geändert. In jedem Dorf gibt es „den Reichen“, „den Armen“ und „die Schönheit“, Gewöhnliche und Ungewöhnliche, Armselige und Arme und Leute wie du und ich. Heute sind aber die Gegensätze und die Vielfalt nicht mehr so offensichtlich wie früher. Damals spielte sich vieles auf der Strasse ab, man ging zu Fuss oder fuhr Velo. Man zeigte sich, das Dorf lebte.

Das Kommen und Gehen, die Arbeit und das Vergnügen, das Festen und Fasten pulsierte und war für uns Kinder ein lebendiges Bilderbuch. Alle bewegten sich - so schien es – nach vorgegebenen Regeln. Da waren die Trauernden, die im Friedhof an den Gräber standen, dort die Lustigen, die an der Fasnacht durch die Strassen tanzten. Das, was wir sahen, wurde ergänzt durch Geschichten, die wir von den Erwachsenen aufgeschnappt hatten.

Zudem trugen Dorfbewohnerinnen und –bewohner ihre Berufskleider. Lehrer und Pfarrer erkannte man auf Anhieb, die Bäcker und die Metzger trugen ihre Schürzen, die Bauern Kittel und Stiefel. Ich erinnere mich, dass wir Häftlinge aus der Strafanstalt in gestreiften Anzügen sahen, sie standen unter Bewachung und hackten und buddelten mitten auf der Strasse. Da musste man uns nicht erklären, um wen es sich handelte, wir brauchten kein Lexikon. Mit offenen Mündern standen wir zuvorderst und mittendrin.

Es war vieles überschaubar und durchschaubar. Die Mütter, die mit Einkaufstaschen durch die Strassen gingen, die Schulkinder, die lärmend in langen Reihen von der Kirche zur Schule marschierten, die Handwerker, die ihr Werkzeug bei sich hatten. Die Pfarrer hatten die Soutane an, die Maler waren mit Farbe bespritzt und die Kaminfeger radelten mit der Leiter auf dem Rücken.

Es ist nicht anzunehmen, dass die Menschen damals besser waren als heute – sie waren bloss nicht so gehetzt, weil das Lebenstempo gemächlicher war. Für die Mütter war es nichts Aussergewöhnliches, zweimal am Tag Einkäufe zu machen und abends die Milch in der Käserei zu holen. Dass damals Menschen Menschen waren, sieht man an den Übernamen, die im Umlauf waren. Sie waren an Boshaftigkeit nicht zu übertreffen.

Wir Kinder auf dem Gemeindehausplatz freuten uns diebisch, wenn Touristen die Josefstatue anstelle des Telldenkmals fotografierten und hielten den Mund. Wenn Abstimmung war, bewegten sich die Männer mit einem feierlichen Schritt und griffen vor dem Gemeindehaus – wie auf einen unsichtbaren Befehl hin - mit derselben Bewegung in die Kitteltasche, um die Stimmzettel rauszuholen. Wenn auf dem Lehn Markt war, trieben Bauern ihr Vieh durch die Strassen.

Das Dorf bildete eine prächtige Kulisse. Bevor wir in der Schule etwas über „das schöne Altdorf“ lernten, hatten wir diese Schönheit erlebt. Die Herrenhäuser strahlten gut-bürgerliche Behäbigkeit aus. Wir liebten Denkmäler wie das Türmli und das Telldenkmal, weil es dem Dorf Bedeutung verlieh. Hinter den Mauern der Häuser in der Herrengasse vermuteten wir Ärzte, im der Schmiedgasse Gewerbetreibende, in Einfamilienhäusern vermögende Familien.

Je nach Jahreszeit hatte dieses „Welttheater“ ein anderes Gesicht. Wenn vor einem Haus das Auto des Arztes mehrmals parkiert hatte, fragte man nach, ob jemand krank sei. Oft schwankte ein Leichenzug durchs die Strassen zur Kirche hin. Wenn in der Kirche eine Hochzeit stattfand, waren wir Kinder mit von der Partie, wir wunderten uns darüber, dass die herumstehenden Frauen jeweils sagten: „Die kommen schon noch auf die Welt.“ Das Dorf war in Bewegung, die Menschen hatten ihre Rollen, und wir Kinder suchten mit grossem Lebenshunger nach unserer Rolle, die uns irgendwo festgeschrieben schien und die wir noch nicht kannten.