Altdorfer Dorfgeschichten

Folgende Porträts sind im
Urner Wochenblatt erschienen:

Von der Sinnlichkeit der Maskenbälle

Helen Busslinger-Simmen
Die Maskenbälle in Altdorf waren bis weit in die siebziger Jahre hinein richtige Bälle mit Walzerklängen, Cha-Cha-Cha, Rumba, Samba, Swing und all den Standard-Tänzen. Damals hatten Frauen und Männer getrennte Rollen. Der Zauber der Bälle funktionierte nur, wenn die festgefügten Rollen wahrgenommen wurden. Dann waren es Nächte voller Zauber und Sinnlichkeit, mit Liebäugeln, Spass und Spiel, ein Ausbruch aus dem Alltag, der bis zum Morgen dauerte.

Man stelle sich einen Saal voller dunkel gekleideter Männer vor, alle gestriegelt von Kopf bis Fuss, ein Hauch von Eau de Cologne schwebte über allem. Die Männer wollten gefallen, sie gaben ihr Bestes. Nach einer Stunde Wartezeit drangen die maskierten Frauen in den Saal ein, auch sie so schön, frisch und frech wie möglich, in bunten Verkleidungen, mit Perücken und Hüten, maskiert. Sie wirbelten zu den Tischen, stellten sich vor und suchten sich Tanzpartner aus.

An den Maskenbällen konnten die Frauen ihre Herzensbuben nach Gutdünken auswählen. Es ist klar: Wer nur einmal die Auswahl hat, ist anspruchsvoll. So mussten die Tanzpartner etwas darstellen, gewitzte Antworten geben, gut mitspielen und tanzen können wie Traumprinzen. Da waren nur die Besten gut genug. Die Männer machten das Spiel mit, riefen den Maskierten Neckereien zu und fragten immer wieder: „Wer bisch dü?“ Es war ein tolles Treiben, wenn Hunderte von Fasnachtsverrückten tanzten, die Frauen den Männern den Kopf voll schwatzten und intrigierten, was das Zeug hielt.

Während den Tanzpausen suchten sich die Maskierten wenn möglich noch lustigere Partner und tauschten Erfahrungen aus. Das schlimmste Urteil war der Ausruf: „Er cha ja nid emal tanze.“ Die Frauen verkörperten Fantasie-Figuren, die sie sich lange vorher ausgedacht hatten. Die Verkleidung hatte pfiffig zu sein, das Thema sollte was hergeben. Da waren Wahrsagerinnen, Malerinnen, die Bilder verkauften, Frauen auf der Suche nach dem Schulschatz, Zigeunerinnen, Hexen. „As was gasch dü a dFasnacht?“ war lange vorher die brennendste Frage unter Freundinnen.

Das Spiel ging bis zur magischen Uhrzeit punkt Mitternacht, dann wurden die Masken ausgezogen, die Frauen liessen sich Zeit, machten sich zurecht, trödelten vor den Spiegeln herum, der Zauber sollte ein wenig anhalten, wenn möglich. Nach Mitternacht holten die Männer ihre Fasnachts-Partnerinnen zum Tanz, und das Spiel ging weiter. Oft fiel man schlagartig in die Wirklichkeit zurück, etwa dann, wenn sich die lustige Maskenfrau als Nachbarin entpuppte, wenn der Tanzpartner in den Alltagsmief zurückgesunken war.

Bei den grossen Erwartungen kam es vor, dass Fasnächtler nicht auf ihre Kosten kamen, dass der Anlass nicht hielt, was man erhofft hatte – manche Wünsche blieben unerfüllt. Die Gesetze, die bis Mitternacht aufgehoben worden waren, traten ja leider wieder in Kraft. Aber es gab einen Trost: Mehr Maskenbälle anderorts und die Gewissheit: Die nächste Fasnacht kommt bestimmt.

Festgefügte Ritualen verbunden mit Freiheit und Lust und Erotik, das war eine faszinierende Mischung. Nach und nach lösten sich die Regeln auf. Die Männer holten ihre Damen nach Mitternacht nicht zum Tanz, gewitzte Frauen genossen – wie Aschenputtel im Märchen - das Spiel bis Mitternacht, um dann zu verschwinden. Neue Fasnachtskulturen entstanden. Die Maskenbälle damals spiegelten das Zeitgefühl: Wie Irre stürzte man sich ins Fasnachtsvergnügen, weil es für Junge, Junggebliebene, Tanzwütige und Festfreudige einfach zu wenig Anlässe gab. Das machte die Fasnacht so einmalig.