Altdorfer Dorfgeschichten

Folgende Porträts sind im
Urner Wochenblatt erschienen:

Kinderspiele im Kreis und in der Kiste

Helen Busslinger-Simmen
Die Kinderspiele, die in den vierziger und fünfziger Jahren in Altdorf Mode waren, lassen sich mit heutigen Spielen nicht vergleichen. Vielstimmig klang es von den Spielplätzen, die wir Kinder uns erobert hatten: „Da kam der böse Fängerich herein!“ „Es ging ein Bauer ins Holz“, dazu spielte man Spitalfangis, Versteckis und Völkerball. Wer weiss, aus welchen Tiefen der Volksweisheit die Lieder und Sprüche stammten. Vieles tönte exotisch, etwa der Abzählvers: „Angang gina, tschurägä ginä, tschurägä tigä tägä, ana dana duss.“

Die Verse wurden von den Ältern den Jüngern weitergegeben, weil die Reime ein einfaches Strickmuster hatten, lernte man sie schneller als das ABC. Und man vergass sie nicht. Mir selber fallen oft aus heiterem Himmel Kinderverse ein, damit verbindet sich der Duft des Lindenbaums beim Gemeindehaus mit dem eigenartigen Geruch nach Freiheit. Nicht nur mir geht es so. An einem Fest von Gleichaltrigen in Altdorf konnten wir – weit nach Mitternacht – einige Verse und Lieder von früher fehlerfrei zum Besten geben.

Weil wir oft in die Kirche gehen mussten, spielten wir auch Erlebnisse in der Kirche nach, wir waren Ministranten, Pfarrer, Siegrist und Kirchenleute. Auf dem Gemeindehausplatz fand eine der ersten Freiluftmessen statt, die nur von Kindern bestritten wurde. Eine Kiste diente als Beichtstuhl. Man beichtete hinter einem alten Lumpen, der als Vorhang diente. Der Beichtvater spielte ein Mädchen, das ein Haarband als Stola angezogen hatte und von den Kleineren alles erfuhr, was ihr Herz bewegte.

Beliebte Spiele waren Kombinationen von Ballspielen und Quizfragen, von Geschicklichkeit und Wissen. Beim Spiel „Halli-Hallo“ sassen wir rittlings auf einer Bank, das Kind, das den Ball erhielt, hatte eine knifflige Frage zu beantworten. Bis wir an die Reihe kamen, konnten wir dumme Sprüche machen, uns ausruhen und uns etwas Neues ausdenken. Wenn uns gar nichts mehr einfiel, spielten wir „Uri, Schwyz und Unterwalden“, ein Ballspiel, bei dem wir regelmässig Streit bekamen.

Andere Spiele haben die Zeitläufe überdauert, etwa Völkerball und Versteckis. Um nicht ständig zu verlieren, mussten wir geschickt sein, wir durften uns aber auch nicht zu schlau anstellen, es galt, die Balance zu finden. Welche Enttäuschung, wenn wir uns so gut versteckt hatte, dass wir nicht gefunden wurden! Die andern gaben jeweils bald die Suche auf und spielten weiter – der Versteckte kam dann mit bitterbösem Gesicht aus dem Schlupfloch und sagte das, was Kinder heute noch in solchen Momenten sagen: Gemein!.

Jedes Spiel hatte eiserne Gesetze, die man im Notfall abwandelte, über die Spielregeln gerieten wir uns in die Haare. Streit gab es oft genug, und immer wieder lief ein Kind schluchzend heim, um sich zu beklagen. Aber die Sticheleinen und Streitigkeiten waren rasch beigelegt, die Gruppe formierte sich neu, ein anderer oder eine andere hatte das Sagen. Bis zum nächsten Streit.

Eines der Spiele, die ich leidenschaftlich geliebt habe, war „Arm sein“ oder „Reich sein“. Als Arme zogen wir mit Regenmänteln im Quartier herum, sammelten Kräuter und legten sie in unsere Kapuzen. Das war, so dachten wir, unsere Mahlzeit. Als Reiche hatten wir Namen, die uns vornehm schienen, wir benahmen uns so affektiert und gespreizt wie möglich, kommandierten fingierte Dienstmädchen herum und taten sonst nichts. Arm sein oder reich sein, das schien mir damals dasselbe Abenteuer zu sein. Das ganze Leben stand ja vor uns, wir machten uns auf, unsere Kräfte zu erproben und alles nach Möglichkeit auszukosten.